Sinn des Lebens? Klara und das Reisen im 21. Jahrhundert

„Also dann, ich sehe dich in vielleicht einem Monat oder so wieder.“ Klara wandte sich zum Gehen. Es war schon 16 Uhr, und die Zeit für die Fahrt im Lift wurde knapp. Werner sah ihr nach. Ja, sie war entschlossen. Er erschrak darüber, und gleichzeitig bewunderte er diesen Wesenszug an ihr. Sie wusste, was sie wollte und hatte den Mut, dazu zu stehen. Bemerkenswert. Er hatte immer Bedenken, sich so klar zu entscheiden. Vielleicht kam das … Ach was, dachte er, es ist nun, wie es ist.
Klara war inzwischen zu einem der Lifte geeilt. Sie packte ihre Koffer, schob sie hinein, nahm tief Luft und drückte auf „Nach oben“. Der Lift setzte sich in Bewegung. Ausnahmsweise war sie allein im Lift. Das hatte sie bisher noch nie erlebt. Hoffentlich war sie nicht zu spät gestartet.
Begeistert sah sie aus dem gläsernen Gefährt. An ihr rauschten Häuser vorbei, Bäume, und dann war da nur noch die Luft. Sie sah durch die gläserne Kuppel nach oben. Schön, so den Wolken entgegen zu fliegen. Sie machte es sich in einem der roten Sessel bequem. 30 Minuten würde die Fahrt noch dauern. Geräuschlos glitt der Lift in einer inzwischen hohen Geschwindigkeit nach oben.
Seit ca. 30 Jahren gab es diese Vereinfachung des Reisens. Klara dachte zurück: Das erste Mal hatte sie, mit viel Herzklopfen und gutem Zureden, diese neue Art des Reisens ausprobiert.
Damals war sie nach Österreich gereist, also von Deutschland aus nur ein paar Schritte weiter. Danach hatte sie Mut gefasst und sich immer weiter entfernt liegende Länder ausgesucht. Und heute würde sie zum ersten Mal zu einem anderen Kontinent unterwegs sein. Sie wollte es wagen und nach Australien reisen.
Etwas ängstlich war sie schon: Wie würde der Transfer vonstatten gehen? War auch alles genau berechnet? Sie hoffte, dass Australien zur rechten Zeit am rechten Ort erscheinen würde.
Der Lift wurde langsamer – aha, sie war fast oben. Sie schaute hoch und sah eine große Menschenmenge warten. Sie kam also noch rechtzeitig. Lächelnd erhob sie sich, packte ihre Koffer und verließ den Lift. Sie ging in einen Warteraum, ausgestattet mit kostbaren Möbeln. Ein Bediensteter kam, stellte ihre Koffer in einen Trolley und führte sie zu einem freien Platz. „Kaffee, Tee oder etwas anderes?“ „Bitte ein Wasser.“ Der Bedienstete verschwand. Klara sah sich um. Wolken zogen an ihr vorbei, die Sonne funkelte, und im Raum waberte die Luft vor Aufregung, Erwartung und Verheißung.
Ihr Wasser kam. Und kurze Zeit später auch die Durchsage: „Werte Reisende, wir begrüßen Sie auf das herzlichste hier im Warteraum der Fluggesellschaft ‚Modernes Reisen im 21. Jahrhundert‘. Wir bitten Sie, nun in die Warteräume zu wechseln, die ihrem Zielort zugeordnet sind. Reisende zu anderen Kontinenten nehmen bitte in den Flugräumen Platz, die Ihrem Zielkontinent zugeordnet sind. Wir wünschen Ihnen eine entspannte Reise und freuen uns darauf, Sie auch das nächste Mal wieder befördern zu dürfen.“
Klara stand auf und sah sich um. Ja, dort – sie entdeckte den Flugraum „Australien“. Sie schob ihren Trolley vor sich her und erreichte den Flugraum. Nur wenige Passagiere waren bisher eingetreten. Sie sperrte ihre Koffer in den Schrank mit ihrer Flugkartennummer, suchte sich einen Fensterplatz aus, setzte sich und wartete gespannt darauf, wie es weitergehen würde.
Nach einiger Zeit hörte sie die Ansage: „Werte Reisende, die Koordinaten sind berechnet, alles ist perfekt aufeinander abgestimmt. Der Transfer beginnt. Wir wünschen Ihnen eine entspannte Zeit. Wir werden in 5 Stunden unser Ziel erreicht haben“. Sie spürte eine Beschleunigung, und dann war wieder alles ruhig. Fasziniert schaute sie aus dem Fenster. An ihr flogen Wolkengebilde vorbei. Dazwischen strahlte die Sonne. Und tief unter sich sah sie Landschaften vorbeihuschen. „So also fühlt sich der Flugraum an“, dachte sie. Angenehm. Sie hatte es sich richtig abenteuerlich vorgestellt, immerhin bewegte der Flugraum sich. In den Warteräumen war keine Bewegung vonnöten, denn da wurde nur die Zeit überbrückt, die die Erde brauchte, um sich weiterzudrehen. Hatte sich dann das ausgesuchte Land in Sichtweite dem Warteraum entgegengeschoben, war die Zeit gekommen, um wieder in einen der Lifte zu steigen, die dieses Mal abwärts fuhren. Und so glitt man dann gemütlich dem sich nähernden Ziel entgegen.
Hier in den Flugräumen mussten jedoch große Distanzen im Breiten- und Längengrad überwunden werden. Deswegen bewegte sich der Flugraum nun auch in Richtung Äquator.
In früheren Zeiten, bis hin zur Zeit ihrer Großelterngeneration, hatten die Reisenden ein sogenanntes Flugzeug bestiegen. Dieses war dann gestartet und hatte die gesamte Strecke, frei in der Luft fliegend, aus eigenem Antrieb bis zum Zielort hin überwunden. Und da nur sehr begrenzt Platz vorhanden war, hatten die Passagiere nur einen Sitz zu ihrer Verfügung, auf dem sie dann fast die ganze Zeit verbrachten. Auch dauerte es viel länger, bis der Zielort erreicht war, da die Menschen zwar die Erdumdrehung mit eingerechnet, jedoch noch nicht die Beschleunigungskorridore gefunden hatten. Um wie viel gemütlicher – und auch sicherer – war das Reisen heutzutage. Klara sah sich um: Im Flugraum war jede Menge Platz. Sie konnte sich entscheiden, etwas im Restaurant zu essen oder sich in den Teil begeben, der mit „Überraschung“ gekennzeichnet war. Oder sie könnte schlafen gehen: Einladend standen Betten in einem abgeteilten Bereich. Sie könnte auch im Kommunikationsraum Platz nehmen.
Klara blieb jedoch sitzen und dachte weiter nach. Früher gab es sehr viele Flugzeuge, die oft nur Stunden nacheinander in die gleichen Richtungen starteten. Auch gab es Unfälle – schrecklich, daran zu denken. Die Menschen mussten sehr mutig gewesen sein, trotzdem in ein solches Flugzeug einzusteigen und zu fliegen. Klara hatte vor Jahren einmal die Gelegenheit wahrgenommen und war in ein altes Flugzeug eingestiegen. Sie hatte sich eingepfercht gefühlt und hätte wahrscheinlich Panik bekommen, wäre es gestartet. Für sie war es unvorstellbar, dass diese Flugzeuge einfach nur in der Luft geflogen waren. Auch ihre Großeltern hatten einige Male solche Reisen unternommen und erzählten manchmal davon. Kurioserweise wollten sie diese neue, sichere und gemütliche Variante des Reisens bisher nicht ausprobieren. Und Werner … Klara stoppte ihren Gedanken sofort. Sie hatte beschlossen, in den nächsten Wochen mal eine Auszeit von Werner zu nehmen und „nur zu sein“. Keine Diskussionen, keine Pläne, kein „Wenn und Aber“ – nichts davon. Nur den Augenblick leben und genießen.
Sie kehrte zu ihren Gedanken über die frühere Art des Reisens zurück. Im Gegensatz zu den Flugzeugen bewegte sich der Flugraum auf magnetischen Schienen. Wie ein Gitter umspannten diese die Erde sowohl in Breiten- wie in Längengraden. Durch das sich entwickelnde Verständnis über physikalische Prozesse hatten die Menschen einer Generation vor ihr entdeckt, dass sie die Magnetfelder benutzen konnten, um darauf zu reisen. Erstaunlich, dass es so lange Zeit gebraucht hatte, um auf diese recht simple Idee zu kommen. Immerhin zogen die Vögel seit ewigen Zeiten auf diesen Routen zu ihren Zielplätzen. Von dieser Erkenntnis ausgehend, war es nur ein kleiner Schritt gewesen, diese Art des Reisens zu installieren. Da Klara sich für die technische Seite interessiert hatte, war sie zu einem Vortrag der Fluggesellschaft gegangen und hatte es so verstanden, dass der Flugraum, der zu anderen Kontinenten unterwegs war, durch Magnetfelder mit den Magnetschienen verbunden war. Es sah zwar aus, als würde er frei in der Luft fliegen, jedoch saß er auf seiner Schiene und wurde von ihr zu seinem Bestimmungsort bewegt.
Mit einem Blick nach unten sah sie, dass sie sich wohl über Afrika befanden. Riesige Herden von Elefanten zogen friedlich ihres Weges. Durch ein am Fenster befestigtes Fernglas konnte Klara die Tiere sehr gut erkennen und beobachten. Es waren Gespräche im Gange, jedes Fenster eines Flugraumes auch mit einer kleinen Kamera auszustatten. So könnten die Reisenden während des Fluges kleine Filme drehen und später mit Freunden die Reise gemütlich anschauen.
Klara schaute auf ihre Armbanduhr: Sie zeigte 17.30 Uhr an. Die große, im Flugraum installierte Uhr gab die jeweilige Zeit des Landes an, über dem sich der Flugraum gerade befand. „Ägypten – 18.30 Uhr“.
Da zog ein angenehmer Duft an ihrer Nase vorbei. Lächelnd ließ sie sich von ihm verführen und folgte der Duftspur. Dabei kam sie an der Tür „Überraschung“ vorbei. Neugierig öffnete sie diese und landete in einem kleinen runden Vorraum. In diesem befanden sich wiederum Türen mit den Aufschriften: Raum 1 „Australien erleben – der Urwald“; Raum 2 „Australien erleben – die Ureinwohner“; Raum 3 „Australien erleben – der Ozean“.
Unschlüssig blieb sie stehen. Durch die Diskussionen mit Werner hatte sie keine Zeit gehabt (und auch keine Lust verspürt), sich über die Gestaltung ihrer Zeit während des Transfers zu informieren. Was sollte sie nun wählen? Entschlossen ging sie auf die Tür mit der Aufschrift: 1 „Australien erleben – der Urwald“ zu und öffnete sie.
Fasziniert blieb sie stehen. Bunte Papageien flogen krächzend an ihr vorbei. In einer fernen Ecke entdeckte sie Palmen, sah Orchideen von den Bäumen wachsen und spürte die tropische, nasse Luft auf ihren Armen. Sie trat ein und fühlte sich augenblicklich in den „Urwald“ integriert. An ihren Eingangsbereich schloss sich eine Holzbrücke an. Sie betrat die Brücke und der Weg führte sie auf ca. 10 m Höhe zwischen den Bäumen und Orchideen hindurch. Da entdeckte sie einen Koala-Bären schlafend in einem Eukalyptusbaum. Sie schlenderte gemütlich weiter und genoss den Anblick der Papageien, Koalas und seltenen Pflanzen. Nach ungefähr 10 Gehminuten sah sie eine Plattform, auf der einige Tische und Stühle so platziert waren, dass die Besucher geschützt unter Palmen saßen und in den nach oben und vor allem nach unten offenen Raum schauen konnten.
Klara sah, dass die Speisekarte viele australische Gerichte enthielt. Ebenfalls eine tolle Einstimmung auf das Land. Sie suchte sich etwas aus, bestellte und genoss die Wartezeit, indem sie ihre Seele baumeln ließ. Das Menu kam und Klara bemerkte, wie hungrig sie war. In den letzten Tagen hatte sie auch das Essen vernachlässigt. Unwillkürlich drängte sich Werner wieder in ihre Gedanken. Er war ihr sehr ans Herz gewachsen, und sie glaubte auch, dass es ihm mit ihr ebenso erging. Aber sein Zögern, seine Vorsicht ihr gegenüber, seine Verwundbarkeit, die er verbergen wollte; alles dies war ihrer Beziehung abträglich, und nach diesen langen 10 Jahren ihres gemeinsamen Lebens wollte Klara sich nun klar werden, wie und vor allem ob es mit ihnen beiden weitergehen könnte.
Ein Papagei ließ sich neben ihr nieder. Mit schräg gehaltenem Kopf blickte er sie aus seinen kleinen Äugelein an. Klara lachte: „Magst du die letzten Krümel des Brotes?“ Sie streckte die Hand mit den Krümeln darauf aus, und der Papagei kam vertrauensvoll näher und pickte sie ihr aus der Hand. „Du hast keine Angst vor Nähe. Vielleicht sollte ich Werner mal mit Brotkrumen füttern?“ Sie lachte über ihre Gedanken, obwohl ihr die Beziehungsprobleme mit Werner sehr nahegingen.
Die Brotkrumen waren aufgepickt, und der Papagei flog davon. Klara bedankte sich für das gute Essen (alle Kosten waren ja schon durch die Transferkosten gedeckt) und verließ den „Urwald“. Wieder zurück im kleinen Vorraum entschied sie sich für die zweite Tür: „Australien erleben – die Ureinwohner“.
Neugierig und etwas ängstlich öffnete sie diese Tür. Was würde sie sehen? Das erste, was sie sah, war ein kleines Schild: „Wir danken den Angehörigen der Aborigines …“ Wieder öffnete Klara eine Türe und stand schwarzem Felsengestein gegenüber. Sie folgte einem kleinen Pfad. Er führte sie um einen kleinen Berg herum. Nach einer halben Umrundung blieb sie sprachlos stehen: Sie sah eine Gruppe Aborigines beieinander sitzen. Einige schnitzten aus einem Holz Figuren, andere saßen in einem Kreis, außen Kinder, innen Erwachsene. Sie fühlte sich in eine ferne Zeit zurückversetzt. Ein Aborigine stand auf, kam auf sie zu und schaute sie prüfend an.
„Bist du ein Mensch?“ Klara wich zurück. „Bin ich auch ein Mensch?“ Er hielt seinen Arm in die Nähe ihres Armes, schaute von dem weißen auf den schwarzen Arm und wieder zurück und dann Klara in die Augen. In ihrem Kopf schlugen die Gedanken Purzelbäume: „Die Weißen, die Aborigines als minderwertige Menschen ansahen, ihnen die Lebensvorstellungen der weißen Rasse aufdrückten und für ihre Vertreibung verantwortlich waren.“
Der Aborigine-Mann wiederholte seine Frage: „Bist du ein Mensch? Und ich auch?“ Klaras Augen füllten sich mit Tränen. Sie nickte. Da lächelte er, machte eine einladende Handbewegung und sagte: „Komm zu uns und lass uns zusammensitzen. Mein Name ist Willi.“ Klara folgte ihm. Der Gastgeber bedeutete ihr, sich neben ihn zu setzen. Sie saßen etwas abseits von der Gruppe der Kinder und Erwachsenen. „Das hier ist unsere Schule. Siehst du in der Mitte die Lehrer sitzen? Sie tragen ihre „Rangabzeichen“ auf ihrem Körper. Der jüngere, vorne links: Auf seinem Arm siehst du drei Ringe. Das bedeutet, dass er seit drei Jahren als Lehrer tätig ist. Der Ältere weiter rechts von ihm hat nicht nur beide Arme, sondern auch seinen Körper mit Ringen bemalt: Das ist ein erfahrener Lehrer. Wo hast du deine Rangabzeichen?“
Klara grinste: „Zu Hause in meiner Schublade; das heißt, ich kann sie dir nicht zeigen.“ „Wie gut, dass wir keine Schubladen haben.“ Er lachte fröhlich. „Erziehung ist wichtig. Die Kinder lernen, wie sie überleben können. Wir konnten früher nur darum in unseren Gebieten überleben, weil jeder Mensch für sich und auch für die Gruppe Aufgaben übernommen hatte, die am besten seinem Können entsprach. Das erhöhte die Lebenschancen aller. Die Lehrer waren, zusammen mit den Weisheitsbewahrern, die höchst angesehenste Gruppe bei uns. Trotzdem sind wir alle gleich: Wir haben keinen Führer oder König. Die erfahrensten Menschen in unserem Stamm, egal ob Frauen oder Männer, übernehmen für ihr „Spezialgebiet“ die Führung. So profitiert der Stamm von allen Fähigkeiten aller Mitglieder.“
Klara nickte. „Wie praktisch!“, dachte sie. „Jeder bringt sich mit seinen Fähigkeiten in die Gruppe ein. Eigentlich völlig selbstverständlich.“
„Komm mit“. Willi erhob sich und ging zu einem Baum. Er pflückte eine kleine Kugel ab, goss aus einem kleinen, bereitstehenden Gefäß etwas Wasser dazu und rieb seine Hände aneinander. Dann streckte er dieses Gemisch Klara entgegen. Sie zögerte. „Damit haben wir gewaschen. Uns und auch unsere Kleider. Da nimm.“ Klara öffnete ihre Hände und empfing eine zähflüssige Mischung. „Und nun reiben.“ Nach einer Zeit sagte sie erstaunt: „Es fühlt sich so – so weich an. Das ist sehr angenehm.“ Willi lächelte. „Ja, wir haben viel Wissen gesammelt, wie wir in unseren Gebieten überleben konnten. Komme weiter mit.“
Er führte Klara zu einer Höhle. „Siehst du die Zeichnungen? Die Originale in Australien sind fast 4.000 Jahre alt. Weißt du, warum die Aborigines Punkte malen?“ Klara schüttelte den Kopf. „Jeder Punkt symbolisiert die Einheit. Alles ist Eins. Wir sind alle das Eine! In den Zeichnungen werden Botschaften für die nächsten Generationen weitergegeben. So bedeutet zum Beispiel eine kleine Zeichnung, dass es an dieser Stelle nur wenig Wasser gibt. Eine große, ausladende Zeichnung lässt auf viel Wasser schließen“.
Klara nickte. In den kurzen Sätzen hatte Willi so viel Anregung zum Nachdenken gegeben; sie brauchte Zeit, dies alles erst einmal zu verstehen.
„Die andere wichtige Gruppe neben den Lehrern sind die Weisheitsbewahrer. Sie sind für eine Vielzahl von Aufgaben verantwortlich: So auch für das Nachmalen der alten Zeichnungen in den Höhlen. Jede zweite Generation malt jeden Punkt mit der gleichen Farbmischung detailgetreu nach und erhält so die dargestellten Informationen für die nächsten Generationen. Ich bin nun der Weisheitsbewahrer meines Stammes, und mir fällt die ehrenwerte Aufgabe zu, diese Zeichnungen detailgetreu nachzumalen.“
Klara schaute ihn nachdenklich an: „Habe ich jetzt etwas überhört oder missverstanden? Du sagtest, dass die Zeichnungen ca. 4.000 Jahre alt sind, UND dass sie in jeder zweiten Generation nachgemalt werden. Wie passt das zusammen?“
Willi nickte. „Die Naturfarben verblassen … Um die Abbildungen für die nachfolgenden Generationen zu erhalten, frischen wir sie immer wieder auf. Und damit der Sinn, der mitgeteilt werden soll, nicht verfälscht wird, arbeiten wir sehr genau. Wir malen Punkt für Punkt akribisch nach. Verstehst du?“
Klara nickte. Sie schaute an ihm vorbei. Ihr eröffnete sich ein Lebensbereich, der dem ihren sehr weit entfernt war und sie trotzdem ob seiner Lebensklugheit ansprach.
„Komm hier herüber.“ Klara duckte sich ein wenig und kroch etwas in die Höhle hinein. „Was siehst du?“ „Einige Menschen und da … was ist das? Ein großer Mensch, ohne Gesicht … schon sehr verwaschene Farben oder … – ich weiß nicht.“
„Das hier ist SPIRIT. Das, was ALLES ist. Das, was wir alle sind. Und das, was überall dazwischen ist. Siehst du: SPIRIT hat lange Arme, in denen er alles hält. Und er ist zwischen allem, was es gibt. Er ist Alles, was es gibt. Wir glauben, dass wir daher kommen und nach unserem Tod dahin zurückgehen. Er/Sie/Es ist die LIEBE und das LEBEN!“ Er ist immer da, sie liebt uns immer. Bedingungslos!“
„Und warum hat er … sie … kein Gesicht?“ „So, wie du es hier abgebildet siehst, ist SPIRIT dargestellt. Hätte er ein Gesicht und einen Namen, würde er/es/sie mit anderen „Abbildungen“, anderen „Ideen“ eine Religion werden. Und dann könnten wir uns mit anderen streiten, welcher SPIRIT denn nun „der Richtige“ ist.
In unserem Verständnis IST SPIRIT – sonst nichts und damit alles.“
Klara nickte langsam. Sie begann zu verstehen. Gott oder Allah oder Buddha oder … ja, alles war SPIRIT und jede Religion hatte Teil am gesamten Wissen. Aber durch die Benennung erfolgte eine Abgrenzung. Sie merkte, dass dieser Gedanke sie auch zu Werner in eine andere Beziehung setzen könnte. „Darüber denke ich nach, wenn ich wieder allein bin“, dachte sie.
Da erst sah sie, dass Willi sie aufmerksam ansah. „Du hast viele Gedanken, die du denken willst. Das ist gut. So kannst du auch dein Muster erkennen.“ Noch bevor Klara etwas erwidern konnte, sagte Willi: „Schau mal, wie deine Hände und Arme aussehen.“ Klara sah etwas verständnislos auf ihre Hände und Arme. „Oh, schau nur, wie weiß sie geworden sind. Und wie zart sie sich anfühlen.“ Willi lachte. „Ja, wir wussten, wie wir uns verwöhnen konnten.“ Klara betrachtete erstaunt ihre Haut: sie sah um Jahre jünger aus. „Bestimmt komme ich auf dem Rücktransfer wieder bei euch vorbei.“ Willi grinste.
Klara verabschiedete sich und bedankte sich für alles. Dann ging sie durch die Tür wieder „in die Zivilisation“ zurück. Wieder stand sie in einem kleinen Raum und dieses Mal las sie Folgendes auf der Tür:
„Wir danken den Aborigines, die sich bereit erklärt haben, hier in nachgestellten Situationen den weißen Schwestern und Brüdern einen Einblick in ihre frühere, inzwischen weitgehend verlorene Lebensweise zu geben.“
Klara schnappte unwillkürlich nach Luft.
„Nun brauche ich eine Pause!“
Zurück im Vorraum wandte sie sich der dritten Tür zu. Vielleicht finde ich die Pause, die ich nötig habe, am Meer? Schwungvoll öffnete sie die Tür: „Australien erleben – der Ozean“.
Meeresrauschen empfing sie. Rechter Hand lockte eine Miniaturabbildung des Opernhauses von Sydney. Daneben war der Ozean: Er schien endlos zu sein. Sie folgte dem Weg zum und um das Opernhaus herum. Tatsächlich schwammen einige Menschen im Wasser. „Es ist toll“, rief ihr eine Frau zu; „richtiges Meerwasser. Nur ohne Krokodile.“ Sie lachte. Klara bedauerte sofort, sich nicht im Voraus über den Flugraum erkundigt zu haben. Diese leidigen Diskussionen mit Werner. Hätte sie einen Badeanzug mitgebracht, wäre sie sofort in die Wellen gestiegen. Da sah sie eine kleine Hütte, in deren offenem Fenster einige Badeanzüge und Bikinis lagen. Sofort kaufte sie sich einen, zog ihn an und ließ sich ins Wasser des „Ozeans“ gleiten. Herrlich. Es war sehr erfrischend, über den Wolken ein Bad in einem „Ozean“ zu nehmen. Sie schwamm zu einer kleinen Insel, die sie entdeckt hatte, und aalte sich dort im Sand. Auf Holzplanken stand ein Schaukelstuhl, davor ein kleiner Tisch. Unter dem Tisch fand sie eine Isoliertasche. Sie schaute hinein und sah einige Getränke. Nachdem sie sich eine Kokosmilch genommen hatte, machte sie es sich in ihrem Schaukelstuhl bequem und genoss die Illusion der Umgebung.
„Genau wie im richtigen Leben“, ging ihr durch den Kopf. Vieles ist Illusion. Würden wir sie als solche erkennen, wäre sie manchmal weniger hart. Vieles könnten wir entspannter genießen. Wenn ich sicher wüsste, dass ich nach meinem Tod weiterleben würde, hätte ich weniger Angst vor dem Sterben. Und dann könnte ich mich auch freier in meinem Leben bewegen und hätte eine andere Sicht auf Wichtiges und Unwichtiges. Was bleibt übrig, wenn wir sterben?“
Mitten in diese Überlegungen dachte Klara, dass es schon komisch war, dass sie plötzlich so philosophisch geworden war. Hatte die Begegnung mit Willi diese Saiten zum Schwingen gebracht? Sie versank in ihre Gedanken. Die Überlegung, von SPIRIT (oder Gott oder dem großen Geist oder wie immer man das höhere Wesen nennen wollte) kein Gesicht abzubilden, ging ihr durch den Kopf. Willi hatte ihr so eindringlich davon erzählt, dass Klara sich nun an alle Diskussionen erinnerte, die sie mit Freunden über die „richtige Lebensweise, den richtigen Glauben, die richtige Art und Weise, sich selbst wahrzunehmen“, ausgetragen hatte. Wenn SPIRIT durch die Menschen keine Zuordnung zu bestimmten Glaubensrichtungen, zu einer bestimmten Religion erfuhr, dann waren alle Menschen frei, sich ihrem Gewissen anzuvertrauen. Und in dieser Selbstbestimmung war neben der Freiheit auch eine große Verantwortung enthalten. Die Verantwortung, sich für all das zuständig zu fühlen, das von einem selbst ausging bzw. unterstützt wurde. Oder aber auch unterlassen wurde …
Das würde auch bedeuten, so dachte Klara weiter, dass jeder Mensch so sein dürfte, wie er sein wollte. Die Idee, sich den Partner „zurechtzuschneidern“, sodass er dem eigenen Wunschdenken entsprechen sollte, hatte dann fast etwas Frevelhaftes. Wenn SPIRIT den Menschen so viel Freiheit gab, sich selbst auszuleben, wie konnte dann ein Mensch einen anderen Menschen in seinen Aktionen und Reaktionen beschneiden wollen?
Klara wurde immer nachdenklicher. Ihr ging das gemeinsame Leben mit Werner durch den Kopf. Sie fühlte sich in seiner Gegenwart wohl; er war gerne mit ihr zusammen – wieso wollte sie ihn dazu drängen, ihr mehr von seinem Lebensraum einzuräumen als er zu geben bereit war? Sie errötete. Sie fühlte sich, wie wenn sie eine Grenze überschritten hätte. Wenn Werner ihrem Drängen nach mehr Gemeinsamkeit nachgab, dann verlor er seiner Einschätzung nach vielleicht ein Stück seiner Selbstbestimmung …
Plötzlich erinnerte sie sich an die Malerei, die Willi ihr gezeigt hatte: SPIRIT, durchsichtig dargestellt und mit Strichen durch den „Körper“, um anzuzeigen, dass er/sie/es kein Mensch war. „SPIRIT ist die LIEBE und das LEBEN“, hatte Willi gesagt. „Er ist immer da, sie liebt uns immer. Bedingungslos!“
„Und ich?“, ging es Klara durch den Kopf. „Liebe ich Werner? So, wie er ist? Akzeptiere ich ihn als eigenständiges Wesen mit allen seinen ‚Ecken und Kanten‘? Er war so, als ich ihn kennenlernte, wie er jetzt auch ist.“ Was war geschehen, dass sie seine Eigenständigkeit, die sie immer an ihm bewundert hatte, nun nicht mehr ertragen wollte? Wenn er sich nicht intensiver auf sie einlassen wollte oder konnte wie bisher, dann war es ihre Lebensaufgabe, damit zurecht zu kommen. Wollte sie mit ihm zusammenleben? Er gab ihr das, was er ihr geben konnte. Und sie? Gab sie ihm das, was sie ihm geben konnte?
„Etwas mehr Verständnis könnte ich schon für ihn aufbringen. Und Toleranz für seine Schwächen. Oder das, was ich für Schwächen ansehe. Vielleicht passt mir ja auch einfach nur dieses und jenes Verhalten nicht. Fest steht, dass er ein unglaublich liebevoller Mensch ist. Und schließlich habe ich mich auch in ihn verliebt, weil er so sensibel ist. Das schließt auch mit ein, dass er feinfühliger reagiert als andere Menschen.“
Und plötzlich wusste sie, wie sie sich entscheiden würde. Zuerst ganz im Hintergrund, dann immer deutlicher werdend, hörte sie eine Stimme: „Werte Reisende, in einer halben Stunde werden wir uns über dem Kontinent Australien befinden.“
Klara streckte sich. Die Zeit war so schnell verflogen. Bei dem Wort „verflogen“ lachte sie. „Zum Glück nicht verflogen, wer weiß, wo wir sonst angekommen wären. Befreit ging sie zu ihrem Platz zurück. Und während sie auf die Ankunft von und in Australien wartete, formte sich in ihrem Inneren ein Gedanke.
Als sie später im gläsernen Aufzug in das ihr fremde Land hinunterglitt, lächelte sie ihrer SMS nach.
Werner würde sie bestimmt einige Male lesen und sich wundern. Und sie hoffte, dass er zu lächeln beginnen und die Tage zählen würde, bis sie wieder zu ihm zurückgekehrt war …

Diese Informationen zur früheren Lebenssicht und Lebensweise der Aborigines gab der Weisheitsbewahrer Willi unserer Reisegruppe während einer Führung durch ein Aborigines-Gebiet in der Nähe von Cocktown. (November 2011)

Eine Geschichte von Von Inge Rosar, aus ihrem Buch „Sinn des Lebens: Ver-rückte Geschichten zum nach-denken

ISBN: 978-3-940930-90-3

 

 

 

 

 

 

 

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